Die Corona-Pandemie hat einmal mehr die extrem ungleichen Zugänge, Lebenschancen und Konsummöglichkeiten im globalen Kapitalismus offengelegt. Sie zeigt, dass elementare Bedürfnisse krisenfest abgesichert sein müssen, von der Gesundheitsversorgung über die Bildung bis zum Wohnen. Zugleich stehen beinharte Auseinandersetzungen um die Verteilung der Kosten der Krise bevor. Die Unternehmen versuchen, ihre Verluste zu sozialisieren. Nach den öffentlichen Schulden drohen eine Neuauflage von Austeritätspolitiken ebenso wie neue Angriffe der Arbeitgeberseite.
Die Verteidigung des Sozialstaats geht also in eine neue Runde. Doch sie sollte nicht als Abwehrkampf geführt werden, als ein Versuch, das Bedrohte zu konservieren. Stattdessen ist es Zeit, den Sozialstaat gründlich zu erneuern und seine alten Fehler zu beheben. Doch wie sieht ein Sozialstaat aus, der für die kommenden Jahrzehnte und Krisen gewappnet ist? Wie lässt sich verhindern, dass sich die Spaltung der Subalternen weiter vertieft? In Krisen drohen die Kapitalfraktionen ihre Spielräume auf Kosten der Lohnabhängigen zu erweitern. Wie kann eine Alternative dazu aussehen? Und wo wird jetzt schon dafür gekämpft?
Krise an zwei Fronten
Bisher war die Finanzierung des Sozialstaates an wirtschaftliches Wachstum gebunden. In einem hart erkämpften historischen Klassenkompromiss wurden Sozialleistungen auf der Grundlage stetigen Wachstums finanziert und schrittweise ausgebaut. Dies war ein Kompromiss, der lange nicht zulasten der Profite ging. Als die Profitrate zu fallen begann, wurde er mit der neoliberalen Offensive seit Beginn der 1980er Jahre einseitig aufgekündigt. Der Sozialstaat geriet mehr und mehr unter Druck. Angesichts von Globalisierung und Transnationalisierung galt ein starker Sozialstaat als Negativfaktor im internationalen Wettbewerb (auch wenn inzwischen im Sinne des „social investment state“ eine produktivistische Neuorientierung erfolgt ist; vgl. Dowling 2016). Die Begründung: Unter dem Kostendruck der Konkurrenz könnten eben nicht alle Wohltaten finanziert werden. Nach und nach wurden die Systeme sozialer Sicherung ausgehebelt und neoliberal umgebaut. Mit dem sogenannten New Public Management gerieten betriebswirtschaftliche Kriterien zum Maßstab des Handelns auf sämtlichen Feldern des Sozialsystems (vgl. Wohlfahrt 2015).
Seitdem kriselt der Sozialstaat an zwei Fronten: Einerseits haben Jahrzehnte der neoliberalen Kürzungs- und Privatisierungspolitik den Bereich sozialer Infrastrukturen und öffentlicher Dienste finanziell und personell ausgezehrt – vom Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Bereich über die Wohnraumversorgung bis hin zu Kultur und Mobilität. Es fehlt an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Polizist*innen, aber auch an Verwaltungspersonal, Steuerprüfer*innen oder Planer*innen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beziffert die Lücke schon jetzt auf über eine Millionen Arbeitskräfte und bei weiter dynamisch wachsendem Bedarf auf bis zu vier Millionen (Ötsch u.a. 2020).
Andererseits führte die Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu einem längst überwunden geglaubten Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut.[1] Die Ursachen sind vielfältig und hängen doch zusammen: Deregulierung der Arbeitsmärkte und endemische Ausbreitung von Niedriglöhnen und unfreiwilliger Teilzeit, Privatisierung und Ausdünnung der sozialen Infrastrukturen, steigende Mieten sowie eine ungerechte Besteuerungspolitik, die hohe Einkommen sowie große Vermögen begünstigt. In der Folge sehen sich Millionen Menschen mit unsicheren Zukunftsaussichten konfrontiert: Aufgrund von Arbeitslosigkeit, aufgrund von Soloselbständigkeit oder Mini- und Midi-Jobs erwerben immer weniger Menschen ausreichende Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen – unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen. Aber selbst dann, wenn Ansprüche bestehen, reicht das Leistungsniveau oftmals nicht länger für ein Leben ohne Armut. Mit Niedriglöhnen oder erzwungener Teilzeit lässt sich keine vernünftige Rente erwirtschaften oder gar privat vorsorgen. Für große Teile der Bevölkerung bieten die bestehenden Sicherungssysteme keine Perspektive mehr – das Sicherungsversprechen des Sozialstaates verliert an Glaubwürdigkeit und muss grundlegend erneuert werden.
Kein Zurück zum „alten“ Sozialstaat
Wer den Sozialstaat erhalten will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass sich seine Gestalt wandeln muss. Um für die neu zusammengesetzte Arbeiterbewegung des 21. Jahrhunderts attraktiv zu sein, muss das Konzept von Sozialstaatlichkeit erweitert und verändert werden. Dazu gilt es, linke Kritiken an seiner bisherigen Verfasstheit aufzunehmen.
Der Sozialstaat war immer gekoppelt an spezifische Produktions- und Lebensweisen, an ein bestimmtes Geschlechterregime und an das damit verbundene Modell von Erwerbsarbeit und Reproduktion. Feminist*innen haben die Norm des männlichen Alleinverdieners im fordistischen Wohlfahrtsstaat kritisiert. Soziale Absicherung ist darin an (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit und an eine weitgehend lückenlose Erwerbsbiografie gebunden. Gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit, die historisch an Frauen delegiert und in den Verantwortungsbereich der privaten Haushalte verlagert wurde, erfährt weder Anerkennung noch soziale Absicherung. Damit ist die Abwertung von Reproduktionsarbeit systematisch in das fordistische Wohlfahrtssystem eingeschrieben. Es verstärkt zudem mit seinem patriarchalen Familienmodell die Abhängigkeit von Frauen und benachteiligt queere Menschen. Obgleich sich die Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse inzwischen deutlich gewandelt haben, bleiben die Verkopplung von sozialer Absicherung und Erwerbstätigkeit sowie die Privilegierung eines heteronormativen Ehe- und Familienmodells bestehen. Deswegen: Ohne Geschlechtergerechtigkeit keine Erneuerung des Sozialstaates.
Die meisten Leistungen des Sozialstaates sind außerdem an nationale Zugehörigkeit gebunden. Es profitieren von ihnen nur diejenigen, die über eine bestimmte Staatsbürgerschaft verfügen oder über die offizielle Lohnarbeit sozialversichert sind. Geflüchtete, Personen im Asylverfahren und insbesondere Illegalisierte haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu staatlichen Sozialleistungen, obwohl Letztere in Sektoren wie Hausarbeit, Pflege, Bau, Landwirtschaft, Sexarbeit, Hotellerie, Gastgewerbe oder Reinigungsgewerbe einen elementaren Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung leisten (vgl. Behr 2010). Über das Aufenthaltsrecht wird migrantische Arbeit abgewertet, viele sind gezwungen, besonders schlechte Löhne und unsichere Bedingungen zu akzeptieren, was sich nicht nur in geminderten Leistungsansprüchen niederschlägt, sondern außerdem eine gesellschaftliche Aufwertung der genannten Arbeiten (Hausarbeit, Pflege etc.) erschwert. Spaltung und Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse werden dadurch verschärft.
Aber auch auf Migrant*innen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wirkt sich der bestehende Sozialstaat diskriminierend aus. Sie leiden besonders häufig unter unterbrochenen Erwerbsbiografien und Phasen informeller, schlechter bezahlter oder generell prekärer Beschäftigung, was geringere Anwartschaften zur Folge hat. Nicht erst angesichts wachsender Migrationsbewegungen muss diese Selektivität des Sozialstaats in Bezug auf die nationale Herkunft überwunden werden. Es bedarf hier einer grundlegenden Erneuerung, um ihn für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Eine große Aufgabe.
Die linke Kritik am fordistischen Sozialstaat hat schließlich deutlich gemacht, dass er – trotz seiner zweifellos positiven Funktion der Absicherung und Umverteilung – auch paternalistische Züge trägt und zur Passivität anhält. Das bürokratische, starre und auf Kontrolle orientierte Hilfesystem ist nicht nur an bestimmte Erwerbsmodelle und Lebensformen gebunden, sondern wirkt an vielen Stellen entmündigend. Der Ausschluss vieler Leistungsempfänger*innen von gesellschaftlicher Teilhabe wird so – trotz sozialer Abfederung – letztlich fortgeschrieben.
Zwar sind etliche, von Luc Boltanksi und Ève Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnete Einwände der neuen Linken später vonseiten neoliberaler Gegner*innen des Sozialstaats aufgenommen und entsprechend enteignet worden. Dennoch steckt hier ein für linke Zukunftsentwürfe unhintergehbarer Impuls: Ein Zurück zu den korporatistisch-bürokratischen Formen des Sozialstaats des 20. Jahrhunderts ist keine Alternative, nicht nur wegen gewandelter Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse, sondern auch wegen seines ausgrenzenden und disziplinierenden Charakters. Mit einer Erneuerung sozialer Sicherungssysteme ist darum auch die Aufgabe ihrer grundlegenden Demokratisierung verbunden.
Wo die Herausforderungen liegen
Die sozialen Sicherungssysteme stehen vor mehreren neuen Herausforderungen, die mit alten Konzepten nicht gelöst werden können.Sozial "abgehängte" Räume: Die Folgen der Erosion des Sozialstaates zeigen sich besonders prägnant auf der sozialräumlichen Ebene. Soziale Ungleichheit verschärft sich und dokumentiert sich zunehmend in Postleitzahlen, teils entstehen „abgehängte" Räume mit extrem lückenhafter Infrastruktur in benachteiligten Vierteln der Städte und in peripheren Zonen jenseits der Städte. Das trifft am stärksten marginalisierte Gruppen und erzeugt Konkurrenz um bereits knappe Ressourcen. Rechte Sicherheits- und Ordnungsdiskurse, die die Bedrohung einer vermeintlich homogenen Lebensweise der Einheimischen heraufbeschwören, können hieran anschließen. Da ein Großteil der Sozialleistungen von den Kommunen erbracht wird, wachsen zudem die sozialräumlichen Disparitäten zwischen Städten und Regionen.
Krise der Reproduktion: Das fordistische Geschlechter-, Reproduktions- und Familienmodell hat sich stark verändert – ohne dass jedoch Geschlechteregalität oder soziale Rechte für alle erreicht wurden. Heute dominiert nicht länger das Alleinernährer-, sondern das sogenannten Adult-Worker-Modell. Der Zwang, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, trifft nun alle gleichermaßen und verändert auch das Sorgeregime. Zwar werden immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeiten, die früher fast ausschließlich privat und unentgeltlich geleistet wurden, heute auch als Erwerbsarbeit erbracht – dies gilt etwa für Pflege und Erziehungsarbeit. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus der Daseinsvorsorge werden die öffentlichen Angebote jedoch massiv ausgedünnt, was Überlastung, Stress und Erschöpfung zur Folge hat. Care-Arbeit ist auch als Lohnarbeit immer noch mehrheitlich eine Domäne von Frauen und Migrant*innen und wird somit deutlich schlechter bezahlt als andere Tätigkeiten. Ohne Geschlechtergerechtigkeit und ohne ein Ende der Abwertung von migrantischer Arbeit kann es also keine Erneuerung des Sozialstaates geben.
Die Zunahme bezahlter Sorgearbeit und ihre zunehmend privatwirtschaftliche Organisierung wirft auch die Frage neu auf, wo die Grenzen einer kapitalistischen Inwertsetzung von Fürsorge liegen. Ausgehend hiervon ist auch zu klären, ob nicht wichtige gesellschaftliche Aufgaben dem Markt gänzlich entzogen werden müssen, ob und inwieweit also eine Vergesellschaftung oder auch Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge notwendig ist.
Migration: Mit der Zunahme weltweiter Migration stellt sich die alte Frage nach dem Zugang zu bis dato vor allem nationalstaatlich organisierten Sicherungssystemen neu. Die Gesellschaften des Nordens sind noch stärker als bisher zu Einwanderungsgesellschaften geworden. Eine Abschottung gelingt nur unter Aufgabe menschenrechtlicher Standards und linker Ansprüche wie dem Anspruch nach Solidarität und Antirassismus. Ein in erster Linie als Versicherungssystem konzipierter Sozialstaat setzt allerdings jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Anwartschaften voraus, die mit einer gestiegenen Bewegungsfreiheit und globaler Migration kaum kompatibel sind. Der Ausschluss vieler migrantischer Arbeitskräfte von sozialen Sicherungsleistungen ermöglicht die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft. Sozialstaatliche Rechte müssen deswegen neu gedacht und von einem restriktiv regulierten Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht sukzessive gelöst werden.
Globale Ungleichheit: Das Einkommensgefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern hat zwar über die letzten Jahrzehnte abgenommen. Dies liegt aber vor allem am Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren wie China oder Südkorea oder von sogenannten Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Indien. Andere Länder sind im Prozess neoliberaler Globalisierung weiter zurückgefallen. Krieg und Zerstörung, Ressourcenausbeutung, unfaire Handelsabkommen, ungerechte weltwirtschaftliche Beziehungen und eine Hierarchisierung der internationalen Arbeitsteilung in globalen Produktionsketten zerstören die Lebensperspektiven von Millionen. Die dadurch verursachte Ausbeutungsdynamik zwischen Nord und Süd wirft die Frage nach der Zugangsberechtigung zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen in den reichen Ländern mit besonderer Schärfe auf. Gleichzeitig hat die Schere zwischen Arm und Reich auch in den wohlhabenderen Gesellschaften ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, mit dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Demokratie und letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung selbst. Die wachsende Ungleich unterminiert damit die Fundamente des sozialen Gewebes.
Klimakrise: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Zunahme klassenspezifischer Ungleichheiten und einem drastisch steigenden CO2-Ausstoß. Der Anteil, den die Reichen an den weltweiten Emissionen haben, wächst überproportional stark, während der Anteil der Ärmsten rückläufig ist. Dieses Missverhältnis gilt generell auch für die einzelnen Gesellschaften (Kleinhückelkotten u.a. 2016). Mehr Gleichheit ist also nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökologischen Gründen notwendig.Die Folgen kapitalistischen Wachstums haben zu einer planetarischen ökologischen Krise geführt, die weitere soziale Verwerfungen sowie eine Zuspitzung der Reproduktionskrise und zunehmende Migrationsbewegungen nach sich zieht und immer mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Damit sind diese Entwicklungen zu nicht mehr hintergehbaren Herausforderungen auch für unser Verständnis von Sozialstaat geworden. Zugleich wird deutlich: „Der Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet“ (Urban). Wenn solidarische Formen der Krisenbearbeitung nicht durchgesetzt werden können und es nicht zu einer Umverteilung von Ressourcen sowie zu einer Verallgemeinerung sozialer Rechte kommt, sind eine Zunahme von Verteilungskonflikten und eine Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse absehbar.
Damit geht es um nicht weniger als um die Frage einer neuen ökologischen, geschlechtergerechten Sozialstaatlichkeit offener Einwanderungsgesellschaften im 21. Jahrhundert. Sie betrifft die kommunale, nationale und transnationale Ebene. Doch um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss der Sozialstaat auch finanziert werden. Angesichts der ökologischen Krise kann dabei nicht umstandslos an die Tradition des sozialstaatlichen Kompromisses auf Basis von noch mehr Wachstum angeknüpft werden. Einerseits müssen Unternehmen und Vermögende deutlich stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Andererseits muss das Verhältnis von Steuern und Beiträgen neu austariert werden, um die Abhängigkeit einer sozialen Absicherung von der Erwerbsarbeit zu überwinden. Das Verhältnis von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden.
Soziale Infrastrukturen: kostenfrei und demokratisch
Die Spaltung der Subalternen drückt sich immer wieder in der Schwierigkeit aus, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, die kollektive Handlungsperspektiven öffnen können. Das zeigt sich auch in den Diskussionen um die Zukunft sozialer Absicherung und die Perspektiven des Sozialstaats im 21. Jahrhundert. Was also wären positive Entwürfe, die die Anliegen der vielfältigen Bewegungen des Protests bündeln könnten? Von den zunehmenden Arbeitskämpfen insbesondere im Bereich Pflege und Erziehung über die Mietenproteste, die Anti-Privatisierungs-Bündnisse bis hin zu den neuen antirassistischen Protesten und der Klimabewegung: Wie könnten gemeinsame Forderungen aussehen, die die unterschiedlichen Anliegen einer pluralen Linken und verschiedenen Teilen der Subalternen aufnehmen und sinnvoll miteinander verbinden?Seit einigen Jahren dreht sich die Debatte – angestoßen von einem Diskussionszusammenhang rund um Joachim Hirsch (2003) und das Frankfurter links-netz (2012) – verstärkt um die Bedeutung sozialer Infrastrukturen als Teil einer postneoliberalen Sozialpolitik. Der Ansatz stellt die sozialen Dienstleistungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Transformation. Nach vielen Jahren neoliberaler Politiken ist hier zum einen der Mangel besonders offensichtlich, zum anderen ist dies der einzige Sektor, der in den Industrieländern ein beträchtliches (klima- und ressourcenneutrales) Beschäftigungspotenzial verspricht.
Statt also Sozialleistungen wie bisher nur über einen Mix aus Versicherungsmodellen und steuerfinanzierten Ansprüchen jeweils individuell abzusichern, besteht die Idee, „soziale Infrastrukturen“ zum Kern eines neuen Sozialstaats zu machen darin, soziale Dienstleistungen konsequent auszubauen und für alle frei – also auch entgeltfrei – zugänglich zu machen. Das betrifft die Gesundheitsversorgung genauso wie den Bereich der (Weiter-)Bildung, der Erziehung und Betreuung, das Recht auf bezahlbares Wohnen und auf Mobilität genauso wie den Zugang zu Energie, Trinkwasser oder zum Internet. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt also – anders als etwa bei einem bedingungslosen Grundeinkommen – nicht primär auf der monetären Absicherung des individuellen Konsums, sondern auf dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, also auf dem kollektiven Konsum.[2]
Alles entgeltfrei? Ja und nein. Vorstellbar wäre beispielsweise, auf allen genannten Feldern eine entgeltfreie Grundversorgung zu ermöglichen und für die Befriedigung darüber hinaus gehender individueller Bedürfnisse, Vorlieben oder Leidenschaften die Menschen ganz oder teilweise bezahlen zu lassen. Für den Bereich der Energieversorgung, die ein modernes menschliches Grundbedürfnis darstellt, würde das Folgendes bedeuten: Die Grundversorgung ist im Rahmen sozialer Infrastrukturen abgedeckt. Wer mehr Energie verbraucht, zahlt dafür, und Vielverbraucher zahlen deutlich mehr, der Preis steigt also progressiv an. Dieses Prinzip ist auf unterschiedliche Bereiche anwendbar (vgl. Schachtschneider/Candeias 2013): Zur Kasse gebeten wird, wer viel verbraucht. Das hieße ein entgeltfreies Pro-Kopf-Trinkwasserkontingent, aber Verteuerung des privaten Swimmingpools; entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, aber Aufschläge für häufige Flugreisen und Luxusautos; entgeltfreier Zugang zum Internet und zu digitalen Gütern, aber Preissteigerungen für riesige Datentransfers. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, die Erstausbildung und bestimmte Zeiten der Weiterbildung sollten für alle gebührenfrei zur Verfügung stehen. Bezahlbarer (auch innerstädtischer) Wohnraum kann über eine Mischung aus Mietpreisregulierung, (dauerhaftem) sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau, Förderung nicht profitorientierten kollektiven Eigentums, Vergesellschaftung großen Immobilienbesitzes und einer entsprechenden Liegenschaftspolitik erreicht werden.
Ein solches Konzept wäre nicht nur ein Beitrag zum Abbau von sozialen Ungleichheiten, sondern auch ein Beitrag zur Ökologisierung unserer Produktionsweise. Investitionen in soziale Dienstleistungen sind ökologisch sinnvoll, da die Arbeit mit Menschen kaum Umweltzerstörung mit sich bringt und deren Ausweitung neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet auch als Ausgleich für die Jobs, die in den rückzubauenden Bereichen klimaschädlicher Industrien verloren gehen werden. Dieser Ansatz hilft nicht nur bei der Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit, sondern auch bei der der (unbezahlten) Reproduktion. Mit dem Ausbau sozialer Dienstleistungen wird professionelle Care-Arbeit aufgewertet und erhält zusätzliche Ressourcen. Zugleich lässt der Erwerbsdruck nach, da die Befriedigung wesentlicher Grundbedürfnisse garantiert ist. Damit steht mehr Zeit für Sorge und Selbstsorge sowie für die Arbeit am Gemeinwesen und politisches Engagement bereit. Nicht zuletzt bietet sich hier auch eine Chance, die für die emanzipative Gestaltung von Geschlechterverhältnissen genutzt werden kann: Der Blick wird stärker auf die reproduktiven Funktionen und Tätigkeiten gerichtet: Was erhält und sichert unser gemeinsames Leben? Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die stärkere Entkopplung der sozialen Teilhabe vom Erwerbsstatus und von der Lebens- oder Familienform – also individuelle Ansprüche für jede und jeden, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft.
Der Ausbau sozialer Infrastrukturen stärkt auch eine solidarische und demokratische Gesellschaft, denn Angst und Unsicherheit vor den notwendigen gesellschaftlichen Umbrüchen werden gemindert. Zugleich erscheinen die diskriminierenden Sozialstaatskonzepte der Rechten weniger attraktiv, wenn Marginalisierung, Konkurrenzdruck und soziale Ungleichheit bekämpft werden. Das Konzept sozialer Infrastrukturen erlaubt es also nicht nur, linke Sozialpolitik jenseits des fordistischen Wohlfahrtstaates neu zu denken. Die Forderung nach einer entgeltfreien, sozialökologischen Grundversorgung für alle, die hier leben (unabhängig von Pass, Geschlecht, Postleitzahl oder sonstigem Status), kann als verbindende Perspektive unterschiedlicher Kämpfe und eines gesellschaftlichen linken, sozialökologischen solidarischen Pols in der Gesellschaft dienen.
Soziale Infrastrukturen zielen darauf, weite Teile der Daseinsvorsorge dem Markt (wieder) zu entziehen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Das bedeutet konkret, soziale Dienste zu dekommodifizieren, ihnen ihre Warenförmigkeit zu nehmen. Mit der Rekommunalisierung beispielsweise von privatisierten Krankenhäusern, Altenheimen, Kindertagesstätten, Wohnraum oder privaten Mobilitätsdienstleistungen ist nicht zuletzt die Frage der Eigentumsform gestellt – wie insbesondere die Kampagnen gegen überhöhte Mieten zuletzt deutlich gemacht haben. Hier können Umverteilung und soziale Gerechtigkeit mit Forderungen nach Demokratisierung und Emanzipation verbunden werden. Denn jenseits der Eigentumsfrage gilt es, neue Formen der Beteiligung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Soziale Infrastrukturen in öffentlicher Hand bedeutet auch, diese umfassend zu demokratisieren, sie in die Hände der Produzent*innen und Nutzer*innen zu legen. An vielen Stellen wird bereits über Gesundheits- oder Care-Räte diskutiert. Auch regionale Mobilitäts- und Transformationsräte stehen auf der Tagesordnung. Wir könnten so einer sozialen Demokratie ein Stück näherkommen und erste Schritt in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus gehen (vgl. Redaktion prager frühling 2009).
Ein strategischer Vorschlag zur richtigen Zeit
Wie lässt sich so ein Umbau öffentlicher Dienstleistungen durchsetzen? Fest steht, das Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn unterschiedliche Akteure darin ihre Interessen wiederfinden. Die Idee kostenfreier, demokratischer Infrastrukturen kann unserer Ansicht nach Spielräume für linke Politik eröffnen: Soziale Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, Spaltungen zu überwinden und solidarisch zu bearbeiten, weil sie egalitäre Zugänge für unterschiedliche Teile der Subalternen bieten. In funktionierenden sozialen Infrastrukturen kommt die Idee eines anderen kollektiven Wohlstands zum Ausdruck, die imstande ist, gemeinsame Interessen an einem öffentlichen Reichtum überhaupt erst zu artikulieren und zur Geltung zu bringen (vgl. Candeias 2019, 6). Außerdem bietet sich die Chance, aus fruchtlosen, von Gegensätzen geprägten linken Debatten herauszukommen, und zwar hinsichtlich mehrerer Streitfragen:
Das bedingungslose Grundeinkommen: Von diesem Grundeinkommen erhoffen sich beispielsweise Erwerbslose, Soloselbstständige und prekär Beschäftigte mehr Sicherheit und Freiheit. Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, die von steigenden Sozialabgaben geplagt sind, während Reallöhne stagnieren, befürchten dagegen weitere Belastungen. Die Debatte ist oft von starren Pro- und Contra-Positionen geprägt, die Linke kommt in dieser Frage seit Jahren nicht weiter. Die Idee „sozialer Infrastrukturen“, verbunden mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, kann hier neue Perspektiven aufzeigen und neue Bündnisse ermöglichen.
Die Wachstumsfrage: Auch an diesem Punkt steckt die linke Debatte fest: zwischen Positionen von Degrowth-Anhänger*innen und denen keynesianisch inspirierter Vertreter*innen qualitativen Wachstums. Dabei streitet niemand ab, dass bestimmte Bereiche schrumpfen müssen, etwa die mit hohem Stoffumsatz verbundene industrielle Produktion, und andere zunächst wachsen müssen, wie die gesamte Care-Ökonomie und eben die sozialen Infrastrukturen, bei relativer Entkopplung von stofflichem Wachstum. Ein solches qualitatives Wachstum ist übergangsweise notwendig, nicht zuletzt aufgrund der Lücken in vielen Bereichen der Reproduktion. Auch alternative industrielle Produktion ist notwendig – dies gilt vor allem für Länder des globalen Südens, aber auch hier für ressourcen- und klimaschonende Innovationen. Ein simpler Gegensatz von Wachstums- versus Postwachstumspositionen ist daher kontraproduktiv. Es muss um ein Einschwenken auf einen mittelfristigen Kurs einer „Reproduktionsökonomie“ (Candeias 2011) gehen, in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr stofflich wachsen. Soziale Infrastrukturen stünden im Zentrum einer solchen Reproduktionsökonomie.
Sie wären damit auch die wichtigste Säule für eine neue öffentliche Ökonomie, ohne die eine sozialökologische Transformation kaum möglich sein wird. Es gibt nur wenig Ansätze, die einer öffentlichen Produktionsweise eine eigene ökonomische Qualität zugestehen. Ausnahmen sind zum Beispiel die Ansätze eines "Public Value" (Mazzucato/Ryan-Jones 2019) oder einer "Sozialwirtschaft" (Müller 2005 u. 2010). Dafür notwendig wäre eine andere gesellschaftliche Buchführung, die vorhandene wie benötigte Ressourcen gebrauchs- und bedarfsorientiert ins Verhältnis setzt und die die Frage ins Zentrum stellt, zu welchem Zweck und wie wir diese Ressourcen eigentlich einsetzen wollen. Eine solche gesellschaftliche Buchführung könnte eine von kapitalistischen Werttransfers unabhängige Grundlage für eine öffentliche Produktionsweise bieten. Der Sozialstaat wäre dann nicht nur kompensatorisch für den Ausgleich sozialer Verwerfungen und als Stabilisator in Zeiten von Krise zu denken, sondern wäre selbst Element einer solchen öffentlichen Ökonomie. Er wäre die Grundlage einer anderen Form des Produzierens und Reproduzierens, die mit dem Begriff grüner Infrastruktursozialismus umschrieben werden kann.
Verbindende Klassenpolitik für den grünen Infrastruktursozialismus…
Für anstehende sozialökologische Transformationskonflikte ist eine ausgebaute und für alle zugängliche soziale Infrastruktur ein Sicherheitsversprechen, das notwendig gewordenen Veränderungen das Bedrohliche nimmt und eine positive Zukunft denkbar werden lässt. Viele Bewegungen und die LINKE haben sich in den letzten Jahren bereits am Konzept der sozialen Infrastrukturen orientiert und es zu einem verbindenden Projekt werden lassen. Hier treffen sich Fragen der Umverteilung mit denen nach Freiheitsrechten und Demokratie, Fragen der Klassenpolitik mit Fragen der Anerkennung und Ermöglichung von Diversität und verschiedenen Lebensweisen.
Auch von anderer Seite wird der Frage sozialer Infrastrukturen (endlich) neue Bedeutung zugemessen: Eine neue "Fundamentalökonomie", wie Wolfgang Streeck es im Anschluss an eine englische Autorengruppe nennt (Foundational Economy Collective 2019), ist ein Bezugspunkt auch für sozialdemokratische Intellektuelle (vgl. u.a. SPW 2019), für Gewerkschaften wie die IG Metall, ver.di, die Eisenbahn- & Verkehrsgewerkschaft oder die GEW, aber auch für Wohlfahrtsverbände und zunehmend auch für die Umweltbewegung und -verbände.
Die Bedingungen für große progressive Entwürfe sind gerade nicht gut, es stehen beinharte Auseinandersetzungen um die immensen Kosten der Krise bevor. Zugleich hat die Corona-Krise viele vermeintlich feststehende Wahrheiten infrage gestellt und aufgezeigt, dass politische Reaktionsmuster ins Wanken geraten können. Innerhalb kürzester Zeit war es nicht nur möglich, im Sinne der Pandemieprävention die Wirtschafts- und Konsumkreisläufe ganzer Gesellschaften herunterzufahren und damit – zumindest vorübergehend – das Primat der Politik vor das der Ökonomie zu setzen. Es ist im Zuge der Krisenbekämpfung auch möglich geworden, große staatliche Finanzvolumina zur Stützung von Unternehmen, Erwerbstätigen und öffentlichen Infrastrukturen sowie zur Ankurbelung der Konjunktur zu mobilisieren und dafür die "schwarze Null" von heute auf morgen über Bord zu werfen. Auf der Ebene der europäischen Regierungen wurde zudem das Verbot der gemeinsamen Verschuldung geschliffen. Das alles bedeutet für den weiteren Fortgang der Krise noch gar nichts, wie erwähnt stehen beinharte Verteilungskämpfe bevor. Es zeigt aber doch, dass das bisher scheinbar so fest verankerte marktliberale TINA-Prinzip[3] in einer gesamtgesellschaftlichen Erfahrung aufgeweicht wurde. Unter der Wucht der Pandemie gewannen nicht nur eine andere Finanz- und Schuldenpolitik, sondern allgemein eine vorausschauendere, staatliche Steuerung und Intervention an Attraktivität. An solchen Tabubrüchen gilt es anzusetzen. Es sind kleine erweiterte Spielräume für eine gesellschaftliche Linke, die es zu nutzen gilt, um neue, um andere Pfade denkbar zu machen und zu erkämpfen (vgl. IfG & Friends 2020).
…und wo sie heute schon stattfindet
Um den Aus- und Umbau sozialer Infrastrukturen wird von vielen Akteuren bereits konkret gekämpft. Am sichtbarsten ist dies momentan wohl im Gesundheitswesen der Fall. In der ab September anlaufenden Tarifrunde für den öffentlichen Dienst (ÖD) wird es um eine Aufwertung der Pflege gehen. Bund und Länder haben angekündigt, dass es angesichts der Krise nichts zu verteilen gibt. Trotz des größten Rettungspakets der Geschichte soll es für die „systemrelevanten“ Berufe also bei einer symbolischen Anerkennung bleiben. Für höhere Löhne in der Pflege, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Personalquoten wird schon seit Langem gestreikt und gekämpft. Die Forderung nach einer bedarfsorientierten Finanzierung und nach mehr Personal in diesem wichtigen Bereich des Gesundheitswesens könnte zu einem Kristallisationspunkt von Kämpfen sowohl von Beschäftigten als auch von Nutzer*innen sozialer Infrastrukturen werden. Im Sinne eines Infrastruktursozialismus geht es außerdem darum, diese wichtigen Funktionen in gesellschaftliche Verantwortung zurückzuholen – also um eine Rekommunalisierung bzw. Vergesellschaftung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.
Ähnlich steht es um Bildung und Erziehung, auch hier wird im Rahmen der Tarifrunde ÖD für eine Aufwertung und für bessere Angebote gestritten. Und auch hier hat die Pandemie schonungslos offengelegt, wie schlecht dieser elementare Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausgestattet ist – und zwar sowohl was das qualifizierte Personal angeht als auch die physische und digitale Hardware. Um in den Bereichen Bildung, Erziehung und soziale Arbeit verlässliche soziale Infrastrukturen für alle durchzusetzen, bedarf es neben einer besseren tariflichen Entlohnung des Personals des Ausbaus von Kitaplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten. Zudem wird vonseiten der Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, der Partei DIE LINKE und anderen schon seit Längerem für die bundesweite Abschaffung von Kitagebühren gestritten. Mit diesen Maßnahmen könnte die in Deutschland besonders dramatisch ausgeprägte Bildungsungleichheit verringert und mehr Teilhabe und Demokratie möglich werden.
Parallel zur Tarifrunde im ÖD werden erstmals bundesweit die Tarife im öffentlichen Nahverkehr verhandelt. Neben einer Entlastung durch mehr Personal geht es um einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Angesichts der zugespitzten Klimakrise ist das Letztere ein zentraler Baustein der Mobilitätswende. Fridays for Future, ver.di, die LINKE und andere wollen diese Auseinandersetzungen als gemeinsames Projekt angehen. Konkrete Schritte, um „Mobilität für alle“ als soziale Infrastruktur zu entwickeln, gibt es in einigen Städten schon: Der Einstieg in einen generellen Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist ein kostenloses Jahresabo für Schüler*innen, Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, kombiniert mit der Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle anderen. Dies soll den notwendigen Umstieg vom Auto auf klimafreundliche Verkehrsmittel erleichtern. Damit der steigende Bedarf an öffentlichen Nah- und Fernverkehrsmitteln überhaupt gedeckt werden kann, muss das Schienennetz ausgebaut und muss eine alternative Produktion von Straßenbahnen, E-Bussen, Zügen, U-Bahnwaggons etc. angeschoben werden. Zumindest Teile davon könnten in öffentlichen Unternehmen realisiert werden und wären damit ein weiterer Baustein der oben skizzierten öffentlichen Ökonomie.
Im Bereich Wohnen & Miete ist die Auseinandersetzung schon weiter. Hier geht es um die Verteidigung eines gesetzlichen Mietendeckels, wie er bisher in Berlin beschlossen wurde, und darum, ihn auf andere Bundesländer auszuweiten. Auch hier wird konkret über Vergesellschaftung diskutiert. Der Berliner Volksentscheid zur Enteignung von Deutsche Wohnen & Co hat dies zum Ziel. Um die Menge an bezahlbarem Wohnraum zu erhöhen, wird der Bau von Sozialwohnungen in großer Zahl über eine „neue Gemeinnützigkeit“ ins Auge gefasst. Auch die Gründung einer öffentlichen Bauhütte, also eines Verbunds von Gewerken in öffentlicher Hand, wäre nützlich, um sich von der Bauindustrie unabhängig zu machen.
Auch in feministischen Debatten und Kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit spielt der Ausbau sozialer Infrastrukturen seit Jahren eine wichtige Rolle. Die internationale Bewegung für einen feministischen Streik und Debatten um eine feministische Klassenpolitik stellen die Aufwertung und Entlastung entlohnter wie unbezahlter Sorgearbeit ins Zentrum. Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit zielt auf eine Ausweitung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen, genauso wie hierzulande das queer-feministische Netzwerk Care Revolution. Dort organisieren sich unentlohnt Sorgende zusammen mit professionellen Care-Arbeiter*innen und denjenigen, die als Patient*innen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind. Gute Arbeitsbedingungen und Ausstattung in Kitas, Ganztagsschulen, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz reduzieren die Überlastung insbesondere von Frauen und ermöglichen eine Aufwertung wie eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit (vgl. Fried/Schurian 2016).
Kämpfe um eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren in der weltweiten Bewegung für solidarische Städte gebündelt (vgl. Christoph/Kron 2019). Städte und Kommunen werden hier als Terrain gesehen, um eine demokratische Teilhabe und den Zugang zu lebenswichtigen Leistungen und Infrastrukturen für Geflüchtete und Illegalisierte lokal zu ermöglichen. New York City hat als erste Stadt eine “City Card” eingeführt, eine Art kommunales Personaldokument, das den Zugang zu städtischen Leistungen wie Gesundheit und Bildung ermöglicht sowie den Besuch von Bibliotheken und Museen, aber auch die Eröffnung eines Bankkontos und Abschluss eines Mietvertrags. Darüber hinaus bietet die "City Card" Schutz vor racial profiling, Polizeigewalt und Abschiebung – sie wird von der lokalen Polizeibehörde anerkannt und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Papiere. Auch in Europa wird an vielen Orten über eine "City Card" diskutiert. Zürich und Bern gehen hier voran,[4] aber auch in Berlin denkt die LINKE über die Einführung eines solchen Ausweisdokumentes nach (vgl. Frank 2019).
In Sachen Finanzierung braucht es Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen. Absehbar ist bereits jetzt, dass die Argumente und Konzepte der Austerität spätestens nach der nächsten Bundestagswahl mit Wucht durchschlagen werden. Spätestens dann wird genauer darüber verhandelt werden, wie und von wem die zur Pandemiebekämpfung aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden sollen. Das alles findet unter anderem vor dem Hintergrund der weiterhin ungelösten Altschuldenproblematik der Kommunen in Höhe von derzeit geschätzt rund 45 Milliarden Euro statt.Die Kommunen aber sind die Orte, an denen die Menschen ganz maßgeblich ihre Alltagserfahrungen sammeln und ihre Leben gestalten. Weitere Einschränkungen in weiten Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge werden der Entdemokratisierung, dem Frust und der Akzeptanz destruktiver Konzepte der Rechten sowie weiteren Klassenspaltungen Vorschub leisten. Umgekehrt kann der Ausbau sozialer Infrastrukturen, wie beschrieben, nicht nur Ungleichheiten bekämpfen, sondern eben auch mehr Demokratie und Teilhabe (auch vormals in der Öffentlichkeit unterrepräsentierter Gruppen) ermöglichen.
Für all das braucht es starke Initiativen von unten, die für eine solche Perspektive weitere kampagnenfähige und öffentlichkeitswirksame Kristallisationspunkte identifizieren, an denen es sich lohnt, auf verschiedenen Ebenen (kommunal, national, europäisch etc.) gleichzeitig produktive Konflikte aufzumachen und voranzutreiben. Dafür müssen auch und vor allem diejenigen gewonnen werden, die unter den derzeitigen Mängeln der sozialen Infrastrukturen am stärksten leiden.
Es wird entscheidend sein, ob es bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr gelingen wird, einen sozialökologischen Block zu formen, der Aufwertung und Ausbau sozialer Infrastrukturen zum Fluchtpunkt eines gemeinsamen Projekts macht (das auch nach der Wahl noch Bestand hat). Denn nur mit massivem gesellschaftlichen Druck und einer Bündelung von Kräften lassen sich konsequente Schritte in diese Richtung durchsetzen – Schritte in Richtung eines grünen Infrastruktursozialismus.
Fußnoten
[1] Die soziale Ungleichheit fällt nach neuesten Zahlen noch drastischer aus, als bislang angenommen: Demnach besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland rund 35 Prozent statt, wie bislang angenommen, 22 Prozent des Nettovermögens, die oberen zehn Prozent 67,3 statt 58,9 Prozent (Bartels u.a. 2020).
[2] Dies bedeutet nicht, die Bedeutung und Errungenschaft des klassischen Sozialversicherungsmodells zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Eine demokratischere, solidarischere Gesellschaft muss auch das Sozialversicherungswesen in den Blick nehmen, ausbauen und universalisieren, um die individuellen Risiken und Brüche im Lebenslauf besser abzusichern. Das heißt unter anderem, dass Elemente einer Mindestsicherung (etwa eine Mindestrente, eine sanktionsfreie Mindestsicherung, oder eine Kindergrundsicherung etc.) gegenüber leistungsbezogenen Anwartschaften verstärkt werden und die Versicherungspflichten ausgeweitet werden müssen. Denkbar wären hier eine umfassende Erwerbstätigenversicherung (unter Einbeziehung auch von Beamt*innen, Freiberufler*innen, Selbstständigen etc.) im Rentensystem sowie eine Bürgerversicherung aller im Gesundheitswesen und eine solidarische Pflegevollversicherung.
[3] TINA: There Is No Alternative.
[4] Vgl. www.zuericitycard.ch/ und https://wirallesindbern.ch/city-card/.
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Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitbegründer dieser Zeitschrift.
Moritz Warnke ist Referent für Soziale Infrastrukturen und verbindende Klassenpolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur dieser Zeitschrift. Er ist im Landesvorstand der Berliner LINKEN und vertritt den Landesverband in der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«.
Eva Völpel arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referentin für Wirtschaftspolitik.
Barbara Fried ist leitende Redakteurin dieser Zeitschrift und stellvertretende Direktorin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist im Netzwerk Care Revolution aktiv und arbeitet zu Fragen von Sorgearbeit und Feminismus.
Hannah Schurian ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg. Sie ist Redakteurin dieser Zeitschrift.
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Ursprünglich veröffentlicht auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/reichtum-des-oeffentlichen