Viele Studien zeigen, dass sich das Mobilitätsverhalten von Frauen grundlegend von jenem von Männern unterscheidet: die Wege, die von Frauen zurückgelegt werden, ähneln eher einem Netz denn einer Pendelbewegung zwischen zwei Punkten. Außerdem stehen Frauen häufiger unter Zeitdruck als Männer, da sie neben ihrer beruflichen Tätigkeit oft auch für die Sorgearbeit zuständig sind. Frauen fühlen sich im öffentlichen Raum, und auch im ÖPNV, eher verletzbar und sind auch eher Angriffen ausgesetzt. Frauen müssen sich notgedrungen öfter auf den ÖPNV verlassen, auch wenn sie sich bspw. nach Einbruch der Dunkelheit oft fragen müssten, wie sie sicher nach Hause gelangen können, mit welchem Verkehrsmittel, in Begleitung oder allein. Und, ob das letzte Stück Weg von der Haltestelle nach Hause ausreichend beleuchtet sein wird, sowie, wie sie sich im Falle eines Angriffs verteidigen könnten.
Niedrigere Beschäftigungsrate und niedrige Einkommen sind einige der Faktoren, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Mobilitätsverhalten verursachen. Dies zieht sich auch bis ins hohe Alter: Frauen erhalten nicht nur die niedrigeren Renten, sondern stellen auch den größeren Teil der älteren Bevölkerung. Dies muss bei der Stadt- und Verkehrsplanung berücksichtigt werden.
Um die Klimaerwärmung und die sich verschärfenden sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu bekämpfen, brauchen wir sowohl in unseren Städten als auch auf dem Land einen flächendeckenden Ausbau des ÖPNV, der für alle erschwinglich sein muss. Nur dann kann das „Recht auf Mobilität“ verwirklicht werden.
Wir haben Wissenschaftlerinnen, Aktivistinnen und Künstlerinnen eingeladen, um mit uns gemeinsam zu diskutieren, wie das „Recht auf Mobilität“ für Frauen bzw. für als Frauen gelesene Menschen und Transmenschen sichergesellt werden kann.
Während unserer Online-Konferenz schalteten sich fast 90 Teilnehmer*innen aus den USA, Brasilien und Europa zu.
Andreas Günther, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung New York, betonte in seiner Begrüßung, dass die RLS NYC bereits seit vielen Jahren zu den Themen „Recht auf Stadt“ (right to the city), sowie zugänglicher und bezahlbarer ÖPNV arbeite. In diesen ungewöhnlichen Pandemiezeiten zeige sich ganz besonders, wie wichtig die Sorgearbeit von Frauen im Gesundheitssektor sei. Im New Yorker U-Bahnsystem werde sichtbar, wie wichtig der ÖPNV für Frauen sei: sie stellen die Mehrheit der Passagier*innen. Das „Recht auf Mobilität“ berühre auch Fragen der Partizipation und demokratischen Teilhabe.
Angie Schmitt, Autorin (z.B. „Right of Way“, „Streetblogs“) und Verkehrswendeaktivistin aus den USA, hob hervor, wie Frauen in den USA im ÖPNV benachteiligt würden: bspw. sei es in vielen Regionen (z.B. in Washington D.C.) Vorschrift, dass in Bussen die Kinderwagen (open stroller) zusammengeklappt werden müssten – schwierig, wenn eine Mutter alleine mit Kind unterwegs ist. Sie berichtet auf ihrem Blog von Fällen, wo Müttern mit Kinderwagen deshalb die Mitfahrt im Bus verweigert wurde. Auch Fragen der Sicherheit beträfen Frauen und non-binär gelesene Menschen besonders: sexuelle Belästigung und Übergriffe im ÖPNV betreffen sie stärker. Eine Studie aus Los Angeles zeigte, dass eine neu eingerichtete Zugverbindung von Frauen und non-binären Menschen weniger genutzt werde, aufgrund von Sorgen um die eigene Sicherheit.
Angie Schmitt hob auch den Zusammenhang zwischen der Wohnungsfrage, Stadtplanung und dem Recht auf Mobilität hervor: In vielen Städten der USA würden im Zuge der Stadtplanung Siedlungen für Einfamilienhäuser bevorzugt (durch den sog. zoning code), wohingegen Gebiete für preiswertere Mehrfamilienhäuser nur zu einem geringeren Maße ausgewiesen würden. Dies benachteilige natürlich Bevölkerungsgruppen mit eher niedrigeren Einkommen (wie z.B. alleinstehende Frauen). Die Geschlechterfrage käme auch bei Fragen der Verkehrssicherheit im motorisierten Individualverkehr zum Tragen: auch in den USA sei der Trend zu immer größeren und stärker motorisierten Fahrzeugen ungebrochen. Sie seien eine besondere Gefahr, v.a. für Kinder, die schlicht vor der Motorhaube „verschwinden“, so dass der öffentliche Raum noch unsicherer werde und die Anforderungen an die Beaufsichtigung von Kindern steigen – eine Aufgabe, die oft Frauen übernehmen müssen.
Eine aktuelle Studie zeige, dass Frauen bei Verkehrsunfällen ein größeres Risiko trügen, verletzt bzw. getötet zu werden, einfach, weil sie tendenziell in kleineren Fahrzeugen unterwegs seien. Insgesamt sei zu beobachten, dass in immer mehr Städten in den USA gigantische Autobahnkreuze (interchanges) gebaut würden, um Pendlerströme zwischen Vorort und Innenstadt zu bewältigen. Andererseits liegen auf Seiten der Verkehrsplanungsbehörden keine Daten bzw. Studien vor, die sich mit den Mobilitätsbedürfnissen von Menschen beschäftigten, die Sorgearbeit leisteten, oder die nicht dem „typischen Pendler“ entsprächen, wie Menschen mit Behinderungen, Kinder, oder ältere Menschen.
Neon Cunha, Anti-Gewalt-Aktivistin aus Sao Paulo, schilderte die Mechanismen der Exklusion, denen ganz besonders Transfrauen und v.a. schwarze Transfrauen in Brasilien ausgesetzt sind. Dies komme besonders zum Tragen, wenn Frauen z.B. ihre Heimatregion verlassen müssten, um in anderen Regionen Brasiliens ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es zeige sich: Schwarze Frauen jedweder sexuellen Orientierung und Genderidentität bilden die unterprivilegierte soziale Klasse, die durch verschiedene gesellschaftliche Konstrukte unterdrückt werde. Das „Recht auf Mobilität“ und das „Recht auf Stadt“ müssten aus einem sozialistischen Blickwinkel verteidigt werden, denn hier ginge es um die Verteidigung der Demokratie. Die gesamte Bevölkerung müsse die Möglichkeit haben, ihre demokratischen Rechte auszuüben.
Neon Cunha schildert in der Folge das Schicksal mehrerer schwarzer Transfrauen, die von sozialer Exklusion, Diskriminierung, Gewalt und Mord betroffen waren. Oft obdachlos, oft HIV-positiv, müssten sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen, und seien darauf angewiesen, mithilfe öffentlicher Verkehrsmittel in die Stadt zu gelangen. In vielen Fällen werde aber Menschen, die nicht „angemessen“ gekleidet sind, der Zugang zum ÖPNV verwehrt. Die durchschnittliche Lebenserwartung von schwarzen Transfrauen liege bei 29 (!) Jahren, die der gesamten brasilianischen Bevölkerung hingegen bei 75. Im Jahr 2020 seien 170 schwarze Transfrauen in Brasilien eines gewaltsamen Todes gestorben. Neon Cunha geht davon aus, dass hier die Dunkelziffer deutlich höher liegt und setzt sich dafür ein, dass die Regierungsbehörden entsprechende Daten erheben.
Abschließend bemerkt Neon Cunha, dass städtische Mobilität stark an Privilegien geknüpft sei und bestimmte Klassen den Zugang dazu dominierten. Um dies zu überwinden, sei ein gesellschaftlicher Dialog zur Stärkung der Demokratie notwendig, der die Rechte von Transfrauen und Transmännern einschließe und deutlich mache, wie stark sich die verschiedenen Ausgrenzungsmechanismen überlagern (Intersektionalität).
Alexandra Millonig vom Austrian Institute of Technology (AIT) unterstrich, dass die Ungleichheiten im Mobilitätsverhalten zwischen Männern und Frauen von verschiedenen Faktoren beeinflusst würden, wie z.B. Stadt- und Raumplanung, die Frage, wer für welche Aufgaben verantwortlich sei, und ob die zurückgelegten Wege den Arbeitsplatz oder die Erledigung von Sorgearbeit zum Ziel hätten. Das Mobilitätsverhalten werde von drei Faktoren bestimmt: Zugang (physisch, finanziell – Steht ein Auto zur Verfügung? Ist eine Busstation in der Nähe?), Fähigkeit (Ist eine Fahrerlaubnis vorhanden? Sind bestimmte Fertigkeiten erlernt worden?), Ambition (Werden bestimmte Formen der Mobilität gewünscht oder stehen dem emotionale Faktoren entgegen, wie z.B. Angst?).
Studien zeigten, dass Frauen aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung stärker unter Zeitdruck stünden, öfter den ÖPNV nutzten, und ihre Wege eher einem Netz glichen und nicht einer Pendelbewegung zwischen Punkt A und Punkt B. Um die Ungleichheiten im Mobilitätsverhalten abzubauen, brauche es eine andere Stadt- und Raumplanung, die stärker auf die Bedürfnisse von Frauen Rücksicht nehme, sowie einen gesellschaftlichen Wertewandel, der die Frauen von der Sorgearbeit entlaste.
Abschließend stellte Alexandra Millonig das Modell des „Mobilitätsbudgets“ (mobility budget) vor, in dem diejenigen, die mehr gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen hätten, auch eine größere Anzahl an Zertifikaten/Berechtigungsscheinen erhalten könnten.
Ebony Noelle Golden, Künstlerin und Wissenschaftlerin, zeigte ein Video des „National Black Theatre“ und warf die Frage auf: Wenn Harriet Tubman heute leben würde, wie würde sie die Situation der Schwarzen sehen? Ebony Noelle thematisiert die Stadt als emanzipierten Raum für Schwarze (liberated black space) und weist darauf hin, wie wichtig es sei, Flächengerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit zu erreichen. Kunst, Kultur und transformative Praxen, wo Schwarze öffentlichen Raum einnehmen, um Diskussionen zu Gerechtigkeit und Antirassismus zu führen, gehörten zusammen. Ihr Theaterstück „125th & Freedom“ hätten sie im öffentlichen Raum geprobt.
Das größte Hindernis für soziale Mobilität sei für Schwarze nicht die Wahl eines Verkehrsmittels, sondern die Politiken, wie z.B. „stop and frisk“ (Polizeikontrollen). Die ursprüngliche Gewalt des Sklavenhandels zeige sich auch in der Art der „Beförderung“ der Schwarzen - auf einem Sklavenschiff. Der Staat tue nicht genug, um Mobilität für Schwarze zu ermöglichen, deshalb setze ihre Bewegung auf eigene Gegenstrategien.
Zum Weiterlesen:
We Forum: www.weforum.org/agenda/2020/01/mobility-in-2020-a-female-perspective
Street Blog USA: https://usa.streetsblog.org/2020/08/20/a-hard-right-turn-the-moment-the-u-s-dot-abandoned-u-s-walkers
Street Blog USA: https://usa.streetsblog.org/2019/05/17/why-more-transit-agencies-are-allowing-open-strollers-on-the-bus